Kartierung des Erinnerns. Formung von Räumen und Gemeinschaften in spätmittelalterlichen Memorialquellen

Kartierung des Erinnerns. Formung von Räumen und Gemeinschaften in spätmittelalterlichen Memorialquellen

Organisatoren
Nina Gallion / Heidrun Ochs, Johannes Gutenberg-Universität Mainz; Tobias P. Jansen, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
Ort
Mainz
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
23.02.2023 - 25.02.2023
Von
Rebecca Kleinort / Maria Jahn, Historisches Seminar: Arbeitsbereich Spätmittelalterliche Geschichte und Vergleichende Landesgeschichte, Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Die Tagung befasste sich mit Räumen und deren Ausformung durch die kollektive Erinnerung. Drei verschiedene Sektionen wurden in den Blick genommen: die Akteur:innen, die diese Räume beeinflussten und formten, die Medien der Erinnerung und die Prozesse zur Kartierung des Erinnerns. Die Tagung widmete sich mit diesem speziellen Fokus den spätmittelalterlichen Memorialquellen.

Sowohl die Formung von Räumen als auch die Formung von Gemeinschaften auf der Grundlage spätmittelalterlicher Memorialquellen sind in großen Teilen noch unerforschte Gebiete, wie NINA GALLION (Mainz) in der thematischen Einführung konstatierte. Die Tagung sollte mit ihren Vorträgen und Diskussionen der Erschließung des Raumes durch die Konzipierung der Memorialquellen nachgehen und sich diesem Forschungsdesiderat widmen. Die Akteure, die eine Verbindung zwischen Menschen und Raum herstellen, und der Prozess des doing memory sowie die Materialität der Quellen spielten dabei eine zentrale Rolle.

MARC VON DER HÖH (Rostock) stellte die Frage nach der Rolle der Verwandtschaft für die familiäre Memoria. Grablegen und Verwandtschaft wurden in der Forschung eingehend behandelt. Von der Höh stellte anhand familiärer Grablegen im Ostseeraum die These auf, dass sich in der Memoria ein zunehmender Bedeutungsverlust der internen Familienbeziehungen offenbart, was zudem mit Ergebnissen der Familienforschung übereinstimme. Dies bedeutet nicht, dass die Familien gar keine Rolle für die Memoria gespielt hätten, doch es müssten auch andere Faktoren wie das Spannungsfeld von symbolischer und wirtschaftlicher Bedeutung, das sich insbesondere bei neubeschrifteten Grablegen und der Entwicklung einer Art Pachtsystem für Grablegen zeigt, hinzugezogen werden.

Wie im Spätmittelalter die Lücke zwischen mündlicher und schriftlicher Überlieferung für die Memoria zu schließen versucht wurde, untersuchte STEFFEN KRIEB (Mainz) anhand des südwestdeutschen Adelsgeschlechtes von Steinach. Mittels Grabsteinen wie demjenigen Ulrichs V. Landschad von Steinach († 1369), der Familienchronik und weiteren Relikten schufen die Landschade von Steinach eine genealogische Erzählung für die Legitimation und Stabilisierung von Herrschaft für ihre Familie. Anhand dieser Quellen hob Krieb hervor, dass Orte und auch Gegenstände Akteure brauchten, die sie mit Sinnhaftigkeit ausstatteten.

FREDERIEKE SCHNACK (Würzburg) stellte anhand des Mindener Domkapitels die Frage, ob der innerhalb memorialer Quellen konstruierte Raum dem Diözesangebiet entsprach. Zu diesem Zweck wertete sie die ediert vorliegenden nekrologischen Quellen des Bistums Minden aus und visualisierte das ermittelte Personenkorpus in einer Karte. Schnack kam zu dem Schluss, dass das kollektive Erinnern Schwerpunkte im Weserraum um Minden und im Südwesten der Diözese aufweise, während dies für die Gebiete um Hoya und Diepholz nicht zutreffe.

Anhand der Klöster Schleswig-Holsteins und deren memorialer Überlieferung dekonstruierte OLIVER AUGE (Kiel) den Begriff der Klosterlandschaft und zeigte, dass sich für die Beschreibung räumlicher Konstrukte Netzwerkanalysen lohnen. Anhand der in klösterlichen Memorialzeugnissen verzeichneten (Stifter-)Orte zeigte Auge die Einzugsbereiche dieser Klöster auf und konstatierte für das heutige Schleswig-Holstein, dass anstelle von einer Klosterlandschaft vielmehr von mehreren Sakrallandschaften gesprochen werden müsse. Es gelte, den Zusammenhang zwischen Raum und Geschichte zu betrachten und zu untersuchen, welche Räume durch die Überlieferungen gebildet wurden.

SIGRID HIRBODIAN (Tübingen) stellte Nekrologe aus drei Straßburger Frauengemeinschaften vergleichend vor. Während in den Einträgen des Nekrologs des ältesten Straßburger Klarissenklosters St. Klara die Klosterschwestern im Vordergrund stehen, fokussiert sich das Nekrolog der Reuerinnen von St. Magdalena auf externe Stifter. Das Nekrolog eines Beginenhauses zeichne sich hingegen dadurch aus, dass es die Straßburger Sakralordnung aus Sicht der Frauen strukturiere. Die Beginen konnten sich aufgrund ihrer Aufgabe der Gräberpflege im Gegensatz zu den Klosterschwestern freier in der Stadt bewegen, was eine anders gelagerte Spezialisierung der Memoria bedingte. Hirbodian stellte zusammenfassend heraus, dass allen dargestellten Nekrologien gemeinsam sei, dass sie individuelle Ausgestaltungen von Frauengemeinschaften mit ihren jeweiligen städtischen sakralen Landschaften spiegelten.

Mit den Gedächtnisbüchern der Mainzer jüdischen Gemeinde gab ANDREAS LEHNARDT (Mainz) einen Einblick in die Memorialkultur des aschkenasischen Judentums am Rhein. Diese sogenannten Jiskorbücher enthalten listenähnlich sowohl liturgische, ökonomische als auch genealogische Informationen zum Gedenken Verstorbener. Das Buch befand sich im liturgischen Raum, der Synagoge, und ist bis heute fester Bestandteil der Gedenkkultur. Die christlichen und jüdischen Memorialbücher entwickelten sich höchstwahrscheinlich parallel. Anhand der im deutschen Vergleich herausragenden Mainzer Überlieferung stellte Lehnardt heraus, dass neben Erkenntnisgewinnen zum jüdischen Gemeindeleben auffällig sei, dass bei den Einträgen keine Unterscheidung nach Geschlecht der verzeichneten Personen vorgenommen wurde. Insgesamt spiegelt das Jiskorbuch das im kollektiven Gedächtnis tief verwurzelte Gedenken, das mit liturgischen Bräuchen und jüdischem Leben eng verknüpft ist.

NINA GALLION (Mainz) stellte ausgewählte Mainzer Nekrologien vor. Ihre Auswertung zeigte u.a., dass die Mainzer Patrizier ihr Totengedenken streuten. Mehrfachnennungen in verschiedenen Totenbüchern sowie Stiftungen an mehrere Institutionen waren keine Seltenheit. Die Nekrologien offenbaren zudem unterschiedliche räumliche Vorstellungen: Die Handschrift selbst konnte einen Erinnerungsraum verbildlichen. Sie diente als Anleitung zur Lokalisierung der einzelnen Memorialstellen in der Kirche, und sie entwarf durch die enthaltenen Personen ein räumlich wie sozial zu deutendes Netzwerk der jeweiligen Gemeinschaft.

Anschließend präsentierte MATTHIAS EIFLER (Leipzig) mit den sächsischen Kapiteloffiziumsbüchern und Nekrologien von Klöstern einen enormen Quellenfundus, der sowohl auf die klösterliche Identität als auch auf deren liturgische Praxis hinweist. Die einzelnen Handschriften konnten einzelne Mitgliederlisten, Hinweise auf die Gründer, die Benediktsregel, Martyrologien oder Informationen zu den Klosterräumlichkeiten enthalten. Die Kapiteloffiziumsbücher waren den Bedürfnissen der jeweiligen Gemeinschaft individuell angepasst, was an einigen Fallbeispielen wie dem Kloster Pegau deutlich wurde.

ALEXANDRA GAJEWSKI (London) zeigte durch die Verortung der Papstgräber in Avignon, wie diese zu kirchlichen Gedächtnisorten wurden. Macht und Präsenz kamen sowohl durch den Papstpalast als auch durch die Grablegen der Päpste in Avignon zum Ausdruck. Deswegen gerieten Eingriffe in die sakrale Topographie schnell zu einem politischen Akt, wie am Beispiel von Clemens VII. zu sehen war. Überdies ließ sich Clemens VII. am selben Ort wie sein Unterstützer Jean de la Grange und der Selige Peter von Luxemburg beisetzen. Zum Ende des 14. Jahrhunderts erfolgte so eine Verlagerung der Grablegen vom Norden der Stadt in den Süden.

Wie Zünfte an ihre Verstorbenen erinnerten, diskutierte SABINE VON HEUSINGER (Köln) und konzentrierte sich auf Bruderschaften. Diese sind nicht gleichzusetzen mit der jeweiligen Zunft, sondern verfolgten als Gemeinschaft des Erinnerns ein gemeinsames religiöses Ziel. So manifestierte sich in Bruderschaftsordnungen die Sorge um ein angemessenes Begräbnis sowie die Normierung des Gedenkens. Überdies existierten Orte des Erinnerns wie die sogenannten Trinkstuben als Aufbewahrungsorte der Leichentücher und -kerzen sowie Kirchen und Friedhöfe, wo sich die Bruderschaften durch Wappen oder feste Begräbnisregelungen einbrachten.

Im öffentlichen Abendvortrag führte ROMEDIO SCHMITZ-ESSER (Heidelberg) aus, dass die materielle Memoria immer Teil der Kartierung des Raumes war. Grabmonumente zeigen, dass die Verbindung mehrerer Perspektiven etwa kunstgeschichtlicher oder epigraphischer Art die bisherigen Fragestellungen um Rezeption und Zugänglichkeit erweitern können. Im Laufe des Spätmittelalters kam es zu einer immer umfangreicheren Materialisierung des Erinnerns für eine religiöse Elite, die sich beispielsweise in eigens angefertigten Gegenständen und Grabdenkmälern äußerte. Schmitz-Esser wies zudem auf das Problem der Unlesbarkeit im Alltag und der Unsicherheit über das tatsächliche Gedenken bei nur eingeschränkt zugänglichen Grabdenkmälern hin, wie demjenigen des konkurrierenden Königs Günther von Schwarzburg-Blankenburg im Frankfurter Dom. Es sei davon auszugehen, dass es bei solchen materiellen Zeugnissen viel mehr um die Kartierung als um die eigentliche Memoria ging. Der Charakter der Memoria dürfe jedoch weder zu stark individualisiert noch dürften ihre Akteure nivelliert werden.

MIRKO BREITENSTEIN (Dresden) beleuchtete anhand der Historiographie der Antoniter und Pauliner, wie diese sich Erinnerungsräume schufen. Beide Orden erzeugten ein historisches Kontinuum durch den Rückbezug auf ihre jeweiligen Gründer Paulus und Antonius. Das Memorialbedürfnis entstand bei beiden Orden aus dem Drang nach institutioneller Selbstvergewisserung in Zeiten existenzieller Krisenerfahrungen. Eine Differenz ergibt sich aus der Materialität, denn während bei den Antonitern der Gründungsmythos gut überliefert ist, blieb für die Pauliner lediglich ein Fragment erhalten. Beiden Quellen ist ein starker memorialer Charakter sowohl für die Institution als auch für die einzelnen Akteure gemeinsam.

Wie anhand von Missivenbüchern zwischenstädtische Beziehungen rekonstruiert werden können, verdeutlichte PATRIZIA HARTICH (Stuttgart). Für die Städte Esslingen, Nördlingen und Nürnberg untersuchte sie deren Briefverkehr während des Städtekriegs 1449/50 und bediente sich dafür Methoden der Netzwerkforschung. Es zeigen sich Veränderungen des Städtenetzwerks und Erweiterungen zur Unterstützung in dieser Krisenzeit sowie einen engen Austausch mit benachbarten Städten. Ein Grund für Verdichtungen des Briefverkehrs konnte beispielsweise in der Koordination der Kriegsführung liegen, die eine enge Kommunikation erforderte.

ARND REITEMEIER (Göttingen) thematisierte die Verortung materieller und liturgischer Memoria an den Nürnberger Stadtpfarrkirchen. Neben der Memoria innerhalb der Kirchen nahm Reitemeier die raumübergreifende Erinnerung in den Blick, die sich im Totengeläut sowie in den Totengeläutbüchern darstellt. Erinnerung forme demnach nicht nur den visuellen, sondern auch den akustischen Raum. Die Pfarrkirchen zeigten ein Totengedenken, das von mehreren Faktoren bedingt war: der Zeit, die sich z.B. anhand von Stiftungsverpflichtungen messen lasse, dem konkreten Ort der Memoria sowie der Kumulation, die sich in den Pfarrkirchen als sakralen Erinnerungsräumen hinsichtlich sozialer Kartierung ergebe.

BIRGIT STUDT (Freiburg i. Br.) beschäftigte sich mit der Entstehung von Memorialräumen durch Stiftungen. Am Beispiel der Stiftung von Universitätskollegien durch Einzelpersonen oder Familien wie beim Pariser Collège de Hubant wurde deutlich, dass die Stifter sich mit dem Kolleg selbst eine Gebetsgemeinschaft für die Ewigkeit schaffen wollten. Durch die Gebete der Kollegienmitglieder für die Stifter wurde für deren Seelenheil gesorgt. Auch nach dem Tod des Stifters blieb er durch das Kolleg und die Gemeinschaft in der Stadt präsent. Am Beispiel der Bücherstiftungen Gerwins von Hameln wurde demonstriert, wie sich die Stifter durch ihre Wappen und Gebetsbitten durch den Leser in Erinnerung rufen ließen.

SVEN JAROS (Halle/Saale) fokussierte sich auf Raumerfassung und -erfahrung in Pilgerberichten und somit auf das Erinnern an sich, losgelöst vom konkreten Totengedenken. Er widerlegte anhand der Reiseberichte der Jerusalem-Pilger Ludwig von Eyb, Martin Ketzel der Jüngere und Herzog Albrecht der Beherzte die These, dass sich alle drei Berichte auf nur eine Primärquelle gestützt hätten. Diese Vorstellung schließe die soziale Dimension sowie die Kommunikationsnetze der Autoren aus. Obschon die Berichte inhaltlich viele Gemeinsamkeiten aufwiesen, sei letztlich kein Bericht wie der andere. Jaros unterstrich zudem, dass es sich bei den Berichten um Elitendialoge handelte, was sich aus den Kosten für die Jerusalemreise ergebe.

Zum Schluss fasste TOBIAS P. JANSEN (Bonn) die Erträge und Desiderate der Tagung zusammen. Die Diversität der Akteure, die von Familien und Einzelpersonen bis hin zu Institutionen reichte, und die verschiedenen Strategien der Erinnerungsprozesse gliederten die Tagung. Es zeigten sich die Vielfältigkeit der Thematik und der Materialität der Memorialquellen sowie ihrer Stifter. Durch die gesamte Tagung zogen sich auch stetig genderspezifische Fragen, die die Dringlichkeit der Behandlung dieses Aspektes in der Memorialkultur aufzeigten. Die geographischen Räume, die auf der Tagung untersucht wurden, waren sowohl auf der Mikroebene wie in einzelnen Gebäuden oder Städten als auch auf der Makroebene zu finden, wenn es um Pilgerreisen ging. Memorialquellen sollten nicht isoliert, sondern stets mit komplementären Quellen gemeinsam betrachtet werden. Daher erscheine eine interdisziplinäre Herangehensweise weiter lohnend, wenn nicht gar dringend erforderlich.

Konferenzübersicht:

Nina Gallion (Mainz): Begrüßung

Marc von der Höh (Rostock): Gedächtnis-Netze. Orte, Medien und Akteure familiärer Memoria im spätmittelalterlichen Reich

Steffen Krieb (Mainz): Von mündlicher Tradition zur Quellenforschung? Erinnerungsräume eines Niederadelsgeschlechts um 1500 und um 1600

Frederieke Schnack (Würzburg): Kollektives Erinnern zwischen Hunte, Weser und Heide? Das Mindener Domkapitel und der in seinen nekrologischen Quellen konstituierte memoriale Raum

Oliver Auge (Kiel): In der Erinnerung lesen wir den Raum: Schleswig-holsteinische Klöster und ihre memoriale Überlieferung

Sigrid Hirbodian (Tübingen): Nekrologe aus Straßburger Frauengemeinschaften

Andreas Lehnardt (Mainz): Jiskor – Gedenke! Mainzer jüdische Memorbücher als liturgische Erinnerungsräume

Nina Gallion (Mainz): Stiften, beten, erinnern. Nekrologien im spätmittelalterlichen Mainz

Matthias Eifler (Leipzig): Kapiteloffiziumsbücher und Nekrologien aus sächsischen Klöstern

Alexandra Gajewski (London): Die Gemeinschaft der Toten: Grablegen und Memoria in Avignon zur Zeit der Päpste

Sabine von Heusinger (Köln): Banner, Wappen, Leichentücher. Jenseitsfürsorge im Kontext der Zünfte

Romedio Schmitz-Esser (Heidelberg): Materielle Memorialzeugnisse und ihr Beitrag zur Kartierung des Raums

Mirko Breitenstein (Dresden): Memorialzeugnisse in der Historiographie religiöser Orden

Patrizia Hartich (Stuttgart): „Das des von uns und unsern nachkomen nit vergessen werden sol“. Missivenbücher als Zeugnisse zwischenstädtischer Beziehungen im 15. Jahrhundert

Arnd Reitemeier (Göttingen): Erinnern – Erinnerung – Erinnerte am Beispiel der Nürnberger Stadtpfarrkirchen

Birgit Studt (Freiburg i. Br.): Spätmittelalterliche Bibliotheks- und Studienstiftungen zwischen Familie, Stadt und Region. Topographien und Logiken der Memoria

Sven Jaros (Halle/Saale): In Spuren schreiben. Raumerfassung und -erfahrung in ausgewählten Schriften spätmittelalterlicher Jerusalem-Pilger zwischen Prätext und Parallelbericht

Tobias Jansen (Bonn): Zusammenfassung und Abschlussdiskussion